Äpfel sind Scheinfrüchte. Ob süß oder sauer, fest oder weich, ob gelb, goldig oder grün – das Fruchtfleisch gibt vor, etwas zu sein, was es nicht ist. Die eigentliche Apfelfrucht liegt als Kern verborgen im Innern. Meist wird die „Kitsche“ achtlos entsorgt. Es ist halt nur der Schein, der schmeckt. Die Frucht selbst ist zu bitter. Was glauben Sie denn?
Ob Augustinus das wusste, der am 28.8.2020 vor 1.590 Jahren starb und dessen Namenstag jährlich an diesem Tag gefeiert wird, das wusste? Er gilt als Urheber der Erbsündenlehre: Ein Apfelbiss genügte und der Mensch wurde von Natur aus zum Sünder. Diese Sichtweise war zwar schon zu seiner Zeit nicht unwidersprochen. Augustinus‘ Theologie aber wurde in den Kirchen des Westens einflussreich.
Er selbst wurde durch die Ideenlehre Platons inspiriert. Sie ist sinnfällig in dessen Höhlengleichnis greifbar: Die Menschen sitzen gefangen in einer unterirdischen Grotte, von der nur ein steiler Gang an die Oberfläche führt. Sie sind so angebunden, dass nur auf die gegenüberliegende Wand schauen können. Durch den Gang aber fällt Licht hinein, so dass man auf der Wand nur die Schatten dessen sehen kann, was sich auf der Oberfläche abspielt. Um die Wahrheit hinter den Schatten zu erkennen, müssten sich die Gefangenen von ihren Fesseln befreien und den beschwerlichen Weg nach draußen ins Licht nehmen. Dann könnten sie die „Idee“ hinter den Schatten, die eigentliche Wahrheit, den Kern der Dinge erkennen.
Das kommt einem in diesen Zeiten doch irgendwie bekannt vor. Es gibt einige, die in Zeiten der Corona-Pandemie vorgeben, die eigentliche Wahrheit hinter den Dingen zu kennen. Zwar verbergen die Erzähler solcher Fantasien den Grund ihres Wissens. Sie geben vor, dass sie im Internet von einem Cousin einer Freundin gelesen haben, dessen Nachbarin es beim Brötchenkaufen von jemandem erfahren hat, der gehört haben soll, dass der Arzt des Vaters der Mutter der Cousine dritten Grades gesagt haben soll, dass ein Virus eben auch nur ein Virus sei. Da ist doch alles klar! Wer freilich so redet, vernebelt mehr als er Licht ins Dunkel bringt. Man steigt sogar immer weiter in die Dunkelheit der Höhle hinab. Der Kern der Wahrheit ist eben so bitter, wie die eigentliche Frucht des Apfels …
Zweifellos aber verfügen die, die hinter allem verschwörerische Mächte wähnen, nicht selten über erzählerische Qualitäten und fantastische Fabulierfähigkeiten. Auch Augustinus war von bestechender Eloquenz und Beredsamkeit. In seiner Zeit, dem frühen 5. Jahrhundert n.d.Z. gehörte der Erwerb der Kunst der Rede zum gehobenen Bildungsstandard. Dazu zählte sicher auch das Studium der Rhetorik Ciceros, der im ersten Jahrhundert vor Christus die Schrift „De oratore“ („Über den Redner“) verfasst hatte. Was freilich die Frage der Wahrheitsfindung angeht, trennen Cicero und Augustinus Welten. Während Augustinus eher skeptisch auf eine Wirklichkeit blickt, die ihm bloßer Schein von Wahrheit ist, erscheint Cicero der Besitz von Wahrheit möglich, die durch gemeinsames Forschen und Ringen erkannt werden kann. Kurz: Cicero sucht den Kern, während Augustinus sich noch mit dem Biss Adams in den Apfel beschäftigt.
Der Umgang mit der Corona-Pandemie zeigt im Jahr 2020, dass die alten Antipoden immer noch wirksam sind. Folgt man der einfachen Gut-Böse-Ideologie oder ringt man hart und um den Preis des Irren-Könnens um Erkenntnis? Sucht man das einfache Hell-Dunkel-Schema oder schreitet man auf dem bitteren Weg von Versuch und Irrtum fort? Selbst Augustinus kennt doch die Gnade des Zweifels, wenn er sagt:
„Mag einer auch sonst zweifeln, über was er will, über diese Zweifel selbst kann er nicht zweifeln.“
Ob man nun glaubt oder nicht: Den Zweifel anzuerkennen ist ein guter Beginn für den Weg der Erkenntnis. Herzlichen Glückwunsch zum Namenstag, heiliger Augustinus!
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der WZ vom 28. August 2020
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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